Der Umgang mit konträren Meinungen

 

Wir gegen die

Das sind doch Idioten. Typen, die sonst nichts auf die Beine stellen, sich hier aber als Freiheitskämpfer feiern. Schwächlinge, die alles mit sich machen lassen. Obrigkeitshörige, Systemkonforme, Rechtsextreme, Linksextreme, Pöbel. Mit denen rede ich doch gar nicht, die sind das doch gar nicht wert, das bringt sowie nichts.
Wie sollte es derzeit anders sein: Es geht um Corona. Und gleichzeitig NEIN, es geht nicht Corona. Es geht darum, was schon seit längerem in unserer Gesellschaft – beschleunigt durch Corona – stattfindet. Und was mich bedrückt. Und was wir tun können.


Was mich bedrückt

Selten war die Diskussion so aufgeheizt wie in diesen Zeiten der Pandemie. In Ländern wie der Schweiz! Österreich! Deutschland! Selten waren die Gräben tiefer zwischen Befürwortern und Gegnern, von welchen Massnahmen, welchem Verhalten auch immer, als heute.

Diskussion? Wirklich? Mein Eindruck ist eher: Selten ist so wenig in unseren offenen Gesellschaften miteinander diskutiert worden wie derzeit. Ich meine damit die Diskussion zwischen Menschen oder Gruppierungen, deren Meinung oder Verhalten konträr zueinander ist. Und mit wem sollten wir sonst diskutieren als mit denen, welche anderer Meinung sind als wir, um etwas zu klären oder zu verändern? Etwa mit denen, die unserer Meinung sind? Und vor allem: Wie selten ist die Rede von Abwägung zwischen gegensätzlichen Zielen, Preis für eine Entscheidung, Respekt vor der anderen Meinung – und dem Menschen, welcher sie vertritt.


Vom Sinn des Lernens

Schauen wir auf uns, unser Leben, ehe wir auf das Verhalten auf der grossen Bühne eingehen, das ich oben beschrieben habe. Die meisten von uns haben auf dem Weg von der Kindheit zum

Erwachsensein gelernt: Wir lernen für das Leben, nicht für die Schule.

Was darin enthalten ist: Wir müssen lernen, damit wir das Leben bewältigen können. Und je älter wir wurden, umso mehr haben wir erfahren, dass da etwas dran ist. Freiwillig oder unfreiwillig. Viele – zumindest von denen, welche dies lesen – sind sogar als Erwachsene wieder zur „Schule“ gegangen, z.B. indem sie Seminare besucht haben, um etwas über sich selbst zu lernen und um sich Fertigkeiten und Werkzeuge anzueignen, damit sie das Leben besser meistern können und es erfüllter wird. Einige Stichworte hierzu: Seine Gefühle – und die der anderen – spüren, sie ausdrücken, sich mehr zeigen oder mehr trauen. Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Widerspruch. Auch entspannterer Umgang mit Kritik oder Ablehnung.
Je erfolgreicher der Besuch dieser „Lebensschule“ war, umso grösser sind auch unsere Möglichkeiten geworden, unser Leben zu gestalten. Und umso besser ist es uns gelungen, mit konträren Meinungen (des Freundes, der Partnerin, der Kinder etc.) umzugehen.


Was ich vermisse

Lernen setzt voraus, dass ich mich in Frage stelle, meinen Standpunkt überprüfe und manchmal verändere. Dass ich raus gehe aus meiner Blase, der Bequemlichkeit, wo ich mich auskenne, überwiegend wohl fühle, sicher fühle. Dass ich Neuland betrete, das mich verunsichert. Meine Überzeugungen überprüfe und sie vielleicht modifiziere. Meine, nicht die meines Gegenüber. Um so ein weiteres Stück zu wachsen und zu reifen, weiter meine Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Bereitschaft hierzu ist das, was ich bei vielen Menschen vermisse in der heutigen Situation auf der „grossen Bühne“. Und was ich für gefährlich halte, ein Beispiel ist die Entwicklung in den USA.


Was sollten wir tun?

Einige Stichworte: Uns öffnen für konträre Sichtweisen, uns darüber informieren, was ihnen zugrunde liegt. Welche Fakten, Philosophien, Glaubenssätze, Ängste, Grundüberzeugungen, Hoffnungen unsere Gegenüber damit verbinden. Zuhören! Und versuchen, ein Gefühl dafür zu bekommen, warum diese Menschen dies so sehen, vielleicht welche Lebenserfahrungen dem zugrunde liegen könnten, welche Verletzungen. Und wahrnehmen, was das mit uns macht, welchen Gefühlen wir bei uns begegnen.

Und uns die Mühe machen, unsere Sichtweise zu erläutern, uns zu zeigen. Und ein Gefühl dafür zu bekommen, was unseren Überzeugungen zugrunde liegt, welche Lebenserfahrungen, Informationen, Fakten.


Was, wenn nicht?

An der Corona-Frage (Gefährlichkeit, Schutzmassnahmen, Verschwörungen, Impfungen und die damit gerade deutlich werdenden Konflikte) zerbrechen Freundschaften und Familien. Menschen werden massiv bedroht. Entscheider werden mit Häme oder Verachtung überschüttet, Autos angezündet und Fenster eingeworfen. Corona macht deutlich, wo wir in unseren westlichen Gesellschaften gerade stehen. Immer mehr von uns verschanzen sich hinter einem Wall der Selbstgefälligkeit und versichern sich dort ihrer geistigen und moralischen Überlegenheit über „die Anderen“, die nicht unsere Meinung sind. Nicht nur in der Corona-Frage. Wir zerstören das bei weitem überwiegende Gemeinsame zugunsten des Trennenden. Und so den Zusammenhalt unserer so wertvollen freien, demokratischen Grundordnung.


Was, wenn doch?

Diskussionen mit Menschen, welche eine völlig andere Meinung als wir vertreten, führen nicht automatisch zu einer veränderten Sichtweise auf eine Thematik, zu einer Annäherung in der Sache. Sie beinhalten aber die grosse Chance, dass die menschliche Ebene intakt bleibt, wenn das WIE stimmt, wenn wir den so anders Denkenden mit Respekt und Wertschätzung begegnen, etwas, was wir auch für uns einfordern. Was nichts weniger ist als die Grundlage für jede gesunde Beziehung. Und was die Form der Auseinandersetzung friedfertiger macht.


Wir, die wir zu denen gehören, welche sich ganz konkret mit den eigenen Vorurteilen, Mustern, Ängsten etc. auseinandergesetzt haben, auch Fertigkeiten angeeignet haben, die jetzt so gefragt sind: Wir sollten hier Vorbild sein. Denn wir haben gerade viel zu verlieren.

 

Günther Neuses
guenther@danielekirchmair.com

 

 

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