Mir geht es eigentlich gut

Aber die Entwicklung der Welt belastet mich zunehmend - Gedanken zur aktuellen Situation

 

Mir geht es eigentlich gut. Aber die Entwicklung der Welt belastet mich zunehmend. So oder so ähnlich höre ich es immer wieder, wenn ich Menschen frage, wie es ihnen geht. Auf meine Nachfrage hin fallen Begriffe wie Finanzkrise, Corona, Krieg in der Ukraine, Flüchtlingskatastrophe, Klimawandel und, ganz neu, der Konflikt im Gaza-Streifen. Warum belasten diese Krisen so viele Menschen? Sie sind doch entweder ziemlich weit weg, schon vorbei oder für den Einzelnen nur sehr indirekt zu spüren.


Wir haben alles im Griff
Unsere Gesellschaften in der westlichen Welt leben seit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, also seit über 70 Jahren, in der Überzeugung, dass es bei uns keinen Krieg mehr geben wird. Dass uns immer die notwendige Energie zur Verfügung steht die wir brauchen, um z.B. zu heizen, oder um mobil zu sein. Dass die Staaten selbst darüber entscheiden, wer in ihr Land kommen kann. Dass die Gesundheitssysteme unangreifbar sind. Dass wir die Natur beherrschen.
Oder, dass wir, die Bewohner dieser Staaten, unseres Glückes Schmied sind, und dass wir alles erreichen können, wenn wir nur wollen. Selbstwirksamkeit und Einzigartigkeit sind weitere Stichworte, welche für den Geist unserer Kultur stehen. Diese Überzeugungen, dieser Geist, haben wesentlich dazu beigetragen, dass wir in einem bis dato nie dagewesenen Luxus und einer nie erreichten Freiheit leben. Und das nicht beschränkt auf wenige Privilegierte.


Überzeugungen wurden erschüttert
Und nun müssen wir erkennen, mehrmals, in kurzer Zeit und auf sehr unterschiedliche Art, dass diese Überzeugungen falsch sind. Mit „Wir“ meine ich unsere Gesellschaft und uns ganz persönlich. Dass wir Entwicklungen und Ereignissen ausgeliefert sind, auf die wir keinen Einfluss haben. Welche unser Land zerstören können, unseren Lebensstandard bedrohen, sogar unser physisches Überleben. Wir sind diesen Veränderungen ausgeliefert, ein Gefühl, das viele vielleicht erstmals erfahren.

 

Wie wirkt diese Erschütterung auf uns?
Ausgeliefertsein war ein Grundgefühl nahezu aller Generationen vor uns, überall auf unserem Planeten. Dem Schicksal, Gott, der Natur, wem und was auch immer. Dem wurde u.a. mit Ritualen oder mit Opfergaben begegnet. Oft wurden Schuldige gesucht und verurteilt. Man wollte eine Erklärung finden und damit eine Lösung, z.B. für den Umgang mit Naturgewalten. Und sich damit nicht hilflos fühlen. Für sie gehört dieses Grundgefühl einfach zum Leben dazu. Und führte nicht zu Resignation oder Hoffnungslosigkeit.
Das ist für die meisten von uns völlig anders. Für viele von uns gehört das Gefühl des Ausgeliefertsein gerade nicht zum Leben. Daher führt es bei diesen zu einer grossen Verunsicherung und Angst. Diese Gefühle führen oft zu Erschöpfung, Resignation, Hoffnungslosigkeit. Verschärft wird dies dadurch, dass wir erstmals in der neueren Geschichte - mit dem Klimawandel – mit einer Bedrohung konfrontiert sind, deren Ausmass die Menschheit so nicht kannte. Welche unaufhaltsam scheint und für die wir derzeit keine wirkliche Lösung kennen. Unsere Gesellschaften, viele von uns ganz persönlich haben derzeit kaum ein Rezept, wie wir mit der derzeitigen Situation umgehen können. Klar, wir können verdrängen, schön reden, Optimismus vorgeben. Aber das ändert die Gefühlslage und die derzeitige Weltlage letztlich nicht.


Demut
Eine Möglichkeit, mit diesen Erschütterungen gut umzugehen, könnte eine Haltung, vielleicht eine Tugend sein, welche für viele von uns völlig aus der Zeit gefallen scheint, geradezu in Verruf geraten ist: Demut. Sie ist so ziemlich das Gegenteil von dem Gefühl, alles im Griff zu haben. Was man ja auch als den Hochmut unserer Zeit in diesem Teil der Welt interpretieren könnte.
Gläubige, spirituelle Menschen kennen Demut. Für diese geht es um das Bewusstsein, dass es eine höhere Macht gibt. Sei es Gott, Fügung, Schicksal, Bestimmung, das Universum. Sie anerkennen und akzeptieren deren Wirkung auf ihr Leben. Wir kennen auch die Demut gegenüber anderen Menschen. Vor ihrem Wirken, ihrer Haltung. Was aber ist mit den anderen? Menschen, die nicht an eine höhere Macht glauben? Viele von ihnen werden Demut mit Begriffen wie Unterwerfung, alles hinnehmen, sich klein machen verbinden. Oder als Ausrede (ich kann ja nichts dafür, weil…). Für diese ist Demut sicher kein Weg, mit den Erschütterungen der heutigen Zeit umzugehen. Gerade für diese Menschen könnte es aber eine Form der Demut geben, welche eine wirkliche Bereicherung für den Umgang mit Herausforderungen sein kann, nämlich die


Akzeptanz der eigenen Grenzen.
Sich dessen bewusst machen, dass uns Grenzen vorgegeben sind, die wir vielleicht verschieben, aber nicht überwinden können. Das können körperliche Grenzen sein, solche des Verstandes emotionale Grenzen. Diese Grenzen haben oft auch mit unseren Prägungen zu tun.
Unser Verstand könnte sofort sagen: Das ist doch klar, wir haben alle unsere Grenzen. Aber eine Wirkung dessen in unserem auf unser Leben ist damit nicht gesichert. Im realen Leben könnte es z.B. bedeuten, dass wir erkennen - und akzeptieren -, dass vieles in unserem Leben nicht von uns gesteuert wurde, oder Ergebnis unserer Überlegungen oder Entscheidung war. Sondern schlicht, zumindest auch: Zufall, Glück, Pech. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Oder umgekehrt. Eine solche Erkenntnis kollidiert mit der Grundüberzeugung vieler Menschen in unserer Gesellschaft, die oben bereits beschrieben wurde. Die eigenen Grenzen erkennen und akzeptieren heisst: Ich habe nicht alles im Griff. Nicht alles unter Kontrolle. Ich bin nur bedingt meines Glückes Schmied. Ich kann nicht alles erreichen, was ich will, egal wie sehr ich mich anstrenge.
Nicht zuletzt: Zu akzeptieren, dass die Komplexität vieler Themen der heutigen Welt unseren Intellekt und unsere Möglichkeiten überfordert. Und es deswegen ganz oft keine „einfachen“ Antworten gibt. Wenn ich mir dessen bewusst werde, was könnte dies für mein Leben bedeuten?


Wie kann Demut auf das Leben wirken?
Einerseits: Demut in Form der Akzeptanz der eigenen Grenzen kann mit schwierigen Gefühlen wie Enttäuschung, Frustration oder Desillusionierung verbunden sein. Überspitzt ausgedrückt: Ich bin vielleicht gar nicht so toll, so besonders, so grossartig, wie ich immer gedacht habe. Dies kann Energie nehmen. Überzeugungskraft. Mut. Vielleicht auch den Willen, das Engagement, etwas zu verändern.
Andererseits: Diese Erkenntnis und Akzeptanz kann gute Gefühle mit sich bringen. Erleichterung, Entspannung. Angst, Stress reduzieren. Vor allem: Gelassenheit. Sie kann verhindern, dass ich meine Kraft für etwas vergeude, was ausserhalb meiner Grenzen und damit meiner Möglichkeiten liegt. Mich verantwortlich fühlen für alles Leid der Welt. Wenn etwas nicht geklappt hat kann diese Sicht/Erkenntnis dazu führen, dass ich mich nicht verurteile, zumindest nicht über die Massen. Dass ich mich nicht als Versager fühle. Es mir nicht den Mut nimmt, sondern mir Mut gibt für einen neuen Anlauf. Nach dem Motto: Vielleicht habe ich ja bei dem nächsten Versuch mehr Glück.
Ich ändere damit nichts an den Fakten, es ändern sich aber meine Gefühle, die damit verbunden sind. Und die damit verbundenen Belastungen. Kurz gesagt: Wenn ich akzeptiere, dass ich nicht alles erreichen kann, weil ich Grenzen habe, kann dies mein Leben sehr erleichtern. Mein Umgang mit mir könnte sanfter werden, meine Beziehung zu mir ehrlicher werden, realistischer.

Demut kann auch meine Beziehung zu anderen Menschen verändern.
Jeder hat sicher schon einmal das Gefühl erlebt, sich einem Menschen überlegen zu fühlen, z.B. weil die eigene Stellung in einer Hierarchie über der des Gegenüber ist. Wie leicht kann es passieren, dass man auf diesen Menschen hinabschaut. Z.B. mit dem Gefühl: Wenn er so klug wäre wie ich, so willensstark, so leidensfähig, was auch immer, dann wäre er so erfolgreich geworden wie ich. Hätte die gleiche Stellung wie ich. Wenn ich mir bewusst bin, dass vieles im eigenen Leben nur bedingt das Ergebnis meiner eigenen Leistung ist, sondern auch von Einflüssen abhängt, auf die ich keinen Zugriff habe, wie anders werde ich diesem Menschen gegenübertreten. Und dies wirkt auf die Beziehung. Kaum jemand fühlt sich wohl, wenn er das Gefühl hat, dass sein Gegenüber auf ihn herabschaut. Ihm vielleicht gönnerhaft begegnet. Wie anders ist die Begegnung, wenn sie von Respekt geprägt ist.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie Demut in Form der Akzeptanz der eigenen Grenzen wirken kann, kann der Umgang mit anderen Meinungen, Überzeugungen sein. In den allermeisten Themen steht uns nur ein Ausschnitt an Informationen zur Verfügung. Je komplexer, umso kleiner ist dieser Ausschnitt. Von Gefühlen oder Überzeugungen, denen wir uns oft gar nicht bewusst sind, ganz zu schweigen. Ganz besonders, wenn sie mit starken Emotionen vertreten werden. Wie vorsichtiger sind wir dann, unsere Meinung als richtig und die andere Meinung des Gegenüber als falsch zu beurteilen. Und vor allem: Wie viel kritischer begegnen wir den so oft postulierten „einfachen Lösungen“ für die oft komplexen Fragestellungen. Wie anders und wie viel zugewandter könnte der Kontakt in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber sein. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dazu zu lernen und die eigene Meinung zu ändern. In jedem Fall kann Demut uns mit Dankbarkeit erfüllen. Aus der Erkenntnis, dass vieles von dem, was uns das Leben erleichtert, es schön macht, ein Geschenk ist.


Demut ist kein Ruhekissen
Gleichgültig was die Quelle meiner Demut ist, sei es dein Glaube, sei es die Akzeptanz der eigenen Grenzen: Als Entschuldigung für Bequemlichkeit dient sie nicht. Denn zur Demut gehört, dass sie eine Verantwortung beinhaltet für das grosse Ganze. Weil ich Teil bin dieses grossen Ganzen. Und daran teilhabe, davon profitiere. Daher trage ich als dieser Teil Mit-Verantwortung für das grosse Ganze, woraus sich die Verpflichtung ergibt, zum Gelingen der grossen Ganzen beizutragen. Und zwar im Rahmen meiner Möglichkeiten. Egal in welcher Gruppe ich mich befinde. Im Kleinen, z.B. in meiner Familie oder an meinem Arbeitsplatz. Im Grossen für das Wohl der zukünftigen Generationen und damit z.B. für das Klima. Oder für den Frieden auf dieser Welt.

 

Und wie kann Demut die Wirkung der derzeitigen Multikrisen auf uns verändern?
Mir geht es eigentlich gut. Aber die Entwicklung der Welt belastet mich zunehmend. Dieses Gefühl vieler Menschen war der Auslöser für diesen Artikel. Klar ist, Demut ändert nichts an den Fakten. Sie kann aber sehr wohl verändern, wie sie auf uns wirken.


Sie kann uns Hoffnung schenken
Auch wenn viele der aktuellen Krisen für uns nicht lösbar erscheinen – und wir uns ihnen damit hilflos ausgeliefert fühlen – heisst dies nicht, dass dem so ist. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass wir wenig wissen von dem, was an Wissen vorhanden ist. Wenn wir uns also unserer intellektuellen Grenzen bewusst sind, dann muss uns auch bewusst sein: Die Wahrscheinlichkeit, dass geeignete Lösungen für die derzeitigen Krisen erforscht oder gerade entwickelt werden, ist hoch. Ein Blick zurück kann dies zeigen. Nur eines von vielen möglichen Beispielen, hier bezogen auf die Klimaerwärmung: Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass wir heute einen grossen Teil unserer Energie mit Sonner und Windkraft erwirtschaften?


Wir können Kraft für ein bewirkendes Leben gewinnen. Und bewirken.
Wenn wir den Krisen mit Demut begegnen, dann kämpfen wir nicht gegen die negativen Gefühle, die sie bei uns auslösen. Wir akzeptieren ihr Dasein. Und dass Krisen zum Leben gehören. Damit investieren wir unsere Kraft nicht in deren Abwehr oder fühlen uns kraftlos. Wir investieren sie darin, Auswirkungen zu reduzieren, dazu beizutragen, dass sie weniger gross werden. Im Rahmen dessen, was uns gegeben ist. In den Grenzen, die uns gegeben sind. Für uns. Für andere Menschen. Für unsere Welt.


Günther Neuses    
guenther@danielekirchmair.com

 

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